Barrieren, die häufig übersehen werden: Vier Portraits

In ihrem Artikel beleuchtet Jacoba Denker von der Stiftung «Zugang für alle» oft übersehene Barrieren bei der Nutzung von Mobile Apps. Verschiedene Personen mit Behinderungen erzählen persönlich und prägnant, welchen Hindernissen sie in ihrem Alltag begegnen.

Die Barrierefreiheit von Webseiten und Apps lässt sich über weite Teile anhand erfüllter und nicht erfüllter Kriterien der WCAG (Web Content Accessibility Guidelines) objektiv messen. Doch hinter diesen generalisierten Kriterien stehen Individuen mit unterschiedlichen Bedürfnissen, die die technischen Anwendungen in ihrem Alltag nutzen möchten. Dieser Beitrag soll ihnen eine Stimme geben.

In unserer Studie möchten wir nicht nur Zahlen präsentieren, sondern auch aufzeigen, was Barrierefreiheit in der Praxis bedeutet. Deshalb haben wir eine Reihe von Betroffenen gebeten, uns von ihren Erfahrungen mit Apps bei alltäglichem Gebrauch zu berichten. Die Antworten zeigen, dass die Arten von Beeinträchtigung und die daraus resultierenden Barrieren deutlich vielseitiger sind, als man zunächst annehmen könnte.

Mirjam M.

Mirjam M.
Mirjam ist gehörlos und besitzt einen geringen Sehrest. Die Nutzung mit Braille-Zeile ist für sie oft so umständlich, dass sie auf ihren Seh-Rest angewiesen ist.

Leider ist die Zugänglichkeit mit Braille noch so schlecht, dass ich manche Apps überhaupt nicht nutzen kann. Die Navigation ist bei einigen Apps mühsam, man muss durch viele Elemente hindurchnavigieren, bis man endlich beim gewünschten ist. Nicht alle Elemente sind beschriftet, so dass sie mit Braillezeile gelesen werden können. Manche Elemente sind sogar nicht mal anwählbar. Zum Glück habe ich noch einen Sehrest. Ohne Sehrest und nur mit Braille wäre es schon sehr schwierig. Ich hätte Stunden, bis ich eine Aufgabe mit einer App endlich lösen könnte.

Mirjam M.

Marinus S.

Marinus ist von Geburt an gehörlos. Ein telefonischer Kontaktversuch zum Kundendienst ist selten erfolgreich. Denn das Verbinden mit einem Gebärdendolmetscher dauert oft so lange, dass das Gegenüber meint, niemand sei am Telefon.

Ganz allgemein bin ich mit der Barrierefreiheit von Apps einigermassen zufrieden, aber vieles darf in Zukunft noch besser werden. Oft funktionieren Sachen mit künstlicher Intelligenz nicht gut und auch Rückrufe sind schwierig, weil das Verbinden über den Dolmetscher zu lange dauert.

Marinus S.

Chiara B.

Chiara ist von einer Post-Burnout Depression betroffen.
Chiara B.

Für mich funktioniert das meiste ziemlich gut. Ich bin sehr zufrieden, dass ich alle Apps verwenden kann, die ich möchte. Störend ist es für mich, wenn zu viele irrelevante Informationen auf einer Seite sind, oder wenn sie unlogisch angeordnet sind.

Chiara B.

Monika H.

Monika kann aufgrund ihrer Schizotypie nur schwierig unterschieden, welche Information wichtig ist und welche nicht. Uns mag Werbung nerven – für Monika ist sie ein Hindernis.

Es wird mir schnell zu viel, da mein Gehirn keinen «Filter» hat. Man sollte die Inhalte der Apps nicht zu oft ändern oder zu schnell aktualisieren. Wenn ständig unnötige Werbung oder andere Sachen erscheinen und wieder verschwinden, macht mich das nervös. Ich wünschte, es hätte EINE App für Kommunikation und nicht viele, das verwirrt mich.

Monika H.

Weitere Statements aus unserer anonymen Umfrage:

  • Ein IV-Rentner gibt zu bedenken, dass eine barrierefreie Einkaufs-App auch die Möglichkeit einer Bestellung gegen Rechnung umfassen sollte. Denn er als IV-Rentner könne keine Kreditkarte beantragen. Zudem sei er bereits nur zum Ausfüllen des Antrags auf Hilfe angewiesen.
  • Eine Person, die auf einen Elektro-Rollstuhl angewiesen ist, steuert mit dem Smartphone den Fernseher, Licht und Haustechnik. Der Sperrbildschirm des Smartphones muss deshalb dauerhaft deaktiviert bleiben. Apps wie «Twint» oder «Postfinance» verweigern dann aber ihren Dienst.

Allgemeine Bemerkungen:

  • Schwerhörige oder gehörlose Menschen sind auf schriftliche Kommunikation angewiesen: Wenn für Rückfragen lediglich eine Telefonnummer angegeben werden kann, erschwert dies die Kommunikation erheblich.
  • Psychische Erkrankungen erschweren die Konzentration, weshalb Werbungen oder plötzlich erscheinende Pop-Up Fenster für solche Menschen eine Stressquelle sein können.
  • Auch Personen mit ADHS können bei einer schlecht strukturierten App schnell den Überblick verlieren. Für die Art und Weise, wie sie Informationen verarbeiten, ist eine klare Struktur wesentlich.

Viele sensorische Beeinträchtigungen wie Blindheit oder Gehörlosigkeit sind relativ leicht nachvollziehbar. Was im Kontext von Barrierefreiheit häufig übersehen wird, sind Einschränkungen im Bereich der Kognition. Diese sind für Nicht-Betroffene einerseits ungleich schwerer nachzuvollziehen und andererseits erfordert die barrierefreie Umsetzung für diese Anspruchsgruppe oft tiefergreifende Anpassungen – auch auf inhaltlicher Ebene. Wie die Beispiele zeigen, sind es manchmal auch Details wie die verzögerte Verbindung zum Gebärdendolmetsch-Dienst oder ein deaktivierter Sperrbildschirm, die unerwartete Hürden verursachen. Gerade weil das Feld möglicher Hürden so breit ist, sollten sich Agenturen und Professionals der App-Entwicklung nicht alleine auf Guidelines und Tests verlassen, sondern die Alltags-Expertise von Betroffenen eng in die Entwicklungsphasen miteinbeziehen. Dies fördert nicht nur die Entwicklung von barrierefreien und alltagstauglichen Apps, sondern auch gelebte Inklusion.

Über die Autorin

Jacobs Denker

Jacoba Denker ist Junior Accessibility Consultant bei der Stiftung «Zugang für alle». Ihre Kompetenzen im Bereich der Barrierefreiheit vertieft sie aktuell in einem Masterstudium mit Schwerpunkt «Barrierefreie Kommunikation».