Die Resultate aus der Auswertung der Daten haben wir nach verschiedenen Aspekten beleuchtet und stellen hier verschiedene Interpretationen und Erkenntnisse daraus vor.
Erkenntnisse
Mit Blick auf das Gesamtfeld aller untersuchten Apps lässt sich folgende Aussage machen:
- 80% der Apps haben eine bedingte Zugänglichkeit, welche Nutzende aus diesem gesellschaftlich wichtigen Ökosystem aus Kommunikation, Produktivität und Information ausschliessen können.
- Mehr als 60% der Apps sind ungenügend zugänglich.
- 20% der Apps sind für Menschen mit einer Beeinträchtigung zugänglich.
Die folgenden Interpretationen der Daten basieren auf dem Accessibility Profil anhand der Ergebnisse der kriterienbasierten Beurteilung nach WCAG 2.1, Konformitätsstufe AA.
Wenn wir die Resultate nach verschiedenen Aspekten gruppieren, lassen sich verschiedene weitere Erkenntnisse sichtbar machen. Wir weisen jedoch darauf hin, dass es sich hierbei um Interpretationen handelt, die durchaus kontrovers sein oder anders benannt oder gelesen werden könnten. Als interessierte Person sind Sie gerne dazu eingeladen, die Interpretationen kritisch zu hinterfragen und selbst Schlüsse aus der Auswertung der Daten zu ziehen.
Der Einfluss der Plattform
Im Gesamtdurchschnitt sind sich die beiden Plattformen iOS und Android sehr ähnlich, allein in der Tastaturbedienbarkeit zeigt sich ein signifikanter Unterschied, bei dem iOS besser abschneidet.
In den Bewertungen einzelner Apps zeigt sich jedoch ein anderes Bild, da sind die Plattformunterschiede weniger eindeutig verteilt.
Beispiel SBB Mobile
Beispiel Migros
Beispiel SRF News
Beispiel Teams
Beispiel Threema
Wir schliessen daraus, dass die umsetzenden Teams unterschiedliche Fähigkeiten haben, verschiedene Aspekte der Zugänglichkeit zu realisieren. Dies deutet darauf hin, dass eine bessere Accessibility Schulung der Design- und Entwicklerteams spürbare Resultate bringen würde.
Unterschiede nach Herkunftsland
Im Clustering nach Herkunftsländern der Apps sehen wir einen deutlichen Unterschied in fast allen Aspekten. Dies mag daran liegen, dass die in der Studie berücksichtigten Apps aus den USA von sehr grossen Herausgebern stammen, die ganz andere Ressourcen für aus der Sicht der Herausgeber «weiche» Aspekte wie Accessibility aufwenden können.
Würden sie das aber auch tun ohne den in den USA doch deutlich höheren regulatorischen Druck auf die Zugänglichkeit? Wir denken: eher nein. Regulatorische Vorgaben sind effektiv und lassen sich auch hier wieder auslesen. Daraus sollten wir lernen. Und auch hier zeigt sich wieder, dass die Vorgaben zur Nutzungsschnittstelle bei den mobilen Plattformen in der Konsistenz und Vorhersehbarkeit das Resultat nivelliert: Hier lässt sich bei Apps wenig falsch machen.
Unterschiede nach Leistungserbringer
Bei den Leistungserbringern zwischen Service Public und Privatwirtschaft zeigen sich wenig Unterschiede. Nur im oben erwähnten Multimedia Profil zeigt sich ein grosser Kontrast, bei dem der Service Public um vieles besser abschneidet.
Dies illustriert unsere Ansicht, dass ein verbindlicher regulatorischer Druck für die Zugänglichkeit durchaus tangible Resultate bringt und dass dieser für den Zweck einer für alle besser zugänglichen Welt auch auf die Privatwirtschaft ausgedehnt werden sollte.
Unterschiede zwischen den Kategorien
Im Clustering nach Kategorien lässt sich interpretieren, dass in den Bereichen «Mobilität» und «Geschäftsumfeld» bessere Resultate erzielt werden als in den Bereichen «Bildung» und «Gesundheit», und alles im Bereich «Information» und «Informationsvermittlung» im Mittelfeld ist. Wobei anzumerken ist, dass Resultate in der Kategorie «Bildung» im Vergleich zu den anderen Kategorien auf einem kleinen Testset beruhen.
Gerade im Hinblick auf die sich auf den Kopf stellende Alterspyramide, in der weniger junge Menschen mit hoffentlich guter Bildung eine mit Einschränkungen und Gesundheitsproblemen konfrontierte ältere Bevölkerungsschicht tragen muss, müsste man dringend Massnahmen ergreifen, die beiden Schlusslichter in diesem Vergleich zugänglicher zu machen.
Unterschiede nach Einschränkungsart
Eine eher experimentelle Gruppierung nach Art der Einschränkung macht interessante Aspekte deutlich und lädt zu weiteren Interpretationen ein.
Das Gesamtbild über alle Apps zeigt, dass nicht alle Einschränkungsbereiche gleich barrierefrei sind. Am offensichtlichsten ist die geringe Abdeckung von nur 70% im Bereich der Motorik. Wie bereits weiter oben gezeigt wurde, ist dieser geringe Wert auf die oft ungenügende Bedienbarkeit der Apps mit alternativen Eingabegeräten wie einer Tastatur oder einem Controller zurückzuführen.
Weshalb schneidet zum Beispiel Parkingpay schlecht in Motorik und Augenlicht ab? Von Autofahrern für Autofahrer? Man muss gut sehen können und motorisch fit sein, um ein Auto fahren zu können, ja. Aber wenn ich das nicht habe, möchte ich als mitfahrende Person wenigstens die Möglichkeit haben, einen Parkplatz zu suchen und zu bezahlen.
Beispiel ParkingPay
Beispiel SBB Inclusive
Hier müssen wir aufpassen, dass wir Argumenten, weshalb eine bestimmte App für diese oder jene Zielgruppe nun nicht unbedingt zugänglich sein muss, keine Tür offen lassen. Wir sind der Meinung, dass alle Apps zugänglich sein müssen, unabhängig von implizit angenommenen Fähigkeiten einer Zielgruppe.
Handlungsbedarf nach Accessibility Profil
Auch die Verteilung nach Accessibility Profil zeigt grosse Unterschiede: So ist die Konsistenz und Vorhersehbarkeit im Vergleich zu Webinhalten übermässig gut, während die sehr wichtigen Aspekte «Mobile Bedienbarkeit» und «Tastaturbedienbarkeit» gesamthaft ungenügend abschneiden.
Sehr schlecht hat die Zugänglichkeit zu Multimediainhalten abgeschnitten, wo das erforderliche 2-Sinne-Prinzip von den wenigsten App Herausgebern ausreichend berücksichtigt wurde.
Das sehr gute Abschneiden der Konsistenz und Vorhersehbarkeit im Kontrast zu sonst üblichen Resultaten aus dem Web weist darauf hin, dass die Nutzungsschnittstellen der mobilen Plattformen hier Entwicklerinnen und Entwicklern weniger Freiheit lassen, diesen Aspekt zu missachten.
Ursachen
Was für Ursachen haben die relativ ernüchternden Resultate dieser Studie?
Wir glauben, dass die Ursachen hier deckungsgleich mit jenen im Web Umfeld sind: wirtschaftliche Faktoren, fehlendes Problembewusstsein, externe Faktoren, geringer regulatorischer Druck und fehlende Zusammenarbeit der verschiedenen Stakeholder.
Wirtschaftliche Ursachen
Dadurch, dass Zugänglichkeit nicht bereits für alle Seiten selbstverständlich ist, figuriert sie auf den Offerten der Dienstleister als zusätzlicher Kostenfaktor, welcher sich leicht und schmerzfrei streichen lässt.
Es fehlt auch an Vergleichbarkeit: Kriterien zur Zugänglichkeit müssen auch von den Auftraggebenden mit klaren Zielwerten angefordert werden, damit die Offerten vergleichbar sind und Fairness herrscht. Hier fehlt es auf beiden Seiten an verbindlichen Guidelines und an der Adaption und Referenzierung durchaus vorhandener Schweizer Standards.
Bewusstsein und Fachwissen
- Sowohl aufseiten der Herausgebenden wie auch der Umsetzenden scheint es massiv an Bewusstsein für das Thema Zugänglichkeit zu fehlen.
- Testing nach Zugänglichkeit muss früh in einem Projekt einsetzen und in den Standardprozess der Entwicklung integriert werden (vgl. auch die Fachartikel zum Thema Entwicklung).
- Es gilt hier zudem, den Herausgebern zu vermitteln, dass es nicht nur um Problem-, sondern auch um Opportunitätsbewusstsein geht: Wir sprechen von einer grossen Bevölkerungsgruppe, die mit Einschränkungen konfrontiert ist, und ein grosser Teil davon ist potenzielle zusätzliche Kundschaft, wenn ihr Angebot oder Produkt zugänglich wird.
- Zudem muss es aufseiten der Designer:innen eine neue Selbstverständlichkeit geben: Wir verstehen Zugänglichkeit nicht als eine Einschränkung, sondern als eine Herausforderung an unsere Kreativität.
Hürden durch externe Inhalte
Wie auch im Web werden bei Apps manchmal externe Inhalte oder Prozesse ausserhalb der Kontrolle der Herausgebenden zur Laufzeit der App eingebunden. Es ist schwierig, dies vor einem Release an die Provider der Inhalte oder Prozesse zu eskalieren und so zu lösen. Diese Problematik kann nur durch verbindlichere Vorgaben von regulatorischer Seite verbessert werden.
Beispiel Bildung
Das Problem der externen Inhalte lässt sich sehr gut anhand von Ebook-Readern aufzeigen: Hier steht die Barrierefreiheit in Konflikt mit einfachen Anlieferungsformaten und Kopiersicherheit. Obwohl gerade die digitalen Lehrmittel das nötige Potenzial für die Barrierefreiheit hätten, wird das Thema der Kopiersicherheit und der Anlieferung höher gewichtet. Mit der Integration von barrierefreien Funktionen wie zum Beispiel Text-zu-Sprache-Konvertierung, der Ausgabe auf Braille-Displays und alternative Beschreibungen von Bildern könnten E-Book Formate viel besser zu einer inklusiven Bildungsumgebung beitragen. Es wäre deshalb wünschenswert, dass sich die Verlage zu zugänglicheren Formaten hinbewegen sowie ihren Beitrag zur barrierefreien Aufbereitung der Inhalte leisten. Die Bildungsorganisationen sind gemeinsam mit den App-Herausgebern aufgerufen, dies mit entsprechendem Nachdruck bei den Verlagen einzufordern.
Regulatorische Vorgaben
Wie es sich aus einigen Resultaten der Studie herauslesen lässt, haben verbindliche regulatorische Vorgaben eine deutliche Wirkung und wohl den besten Effekt zur Verbesserung der Situation.
Hier gilt es, mittels legislativer Vorgabe die Verbindlichkeit zur Umsetzung der Zugänglichkeit nach der BRK auch auf die Privatwirtschaft auszudehnen. Zudem müssen Zugpferde aus der Wirtschaft mit eingebunden werden, welche die Transition von Problem- zu Opportunitätsbewusstsein bereits vollzogen haben und helfen, eine neue Normalität zu schaffen: eine für uns alle zugängliche Welt.
Wir unterstützen deshalb die Initiative des EBGB zur Schaffung einer Allianz für barrierefreie Dienstleistungen, in der auch tonangebende Organisationen aus der Privatwirtschaft mitgestalten. Da es uns alle betrifft: Es können alle nur gewinnen, wenn wir Zugänglichkeit umsetzen!
Massnahmen
Zusammenfassend fordern wir folgende Massnahmen, welche wir durch eine verbesserte Zusammenarbeit aller Stakeholder zusammen angehen zu können hoffen:
Vorteile barrierefreier Apps für Herausgeber sichtbar machen
Die Vorteile einer zugänglichen Welt müssen breiter kommuniziert werden, um ein Opportunitätsbewusstsein bezüglich Barrierefreiheit zu schaffen. Es müssen zudem Guidelines zur Offertstellung und zu verbindlichen Anforderungen aufseiten der Beschaffenden herausgegeben werden, welche einen Übergang zu einer Selbstverständlichkeit umgesetzter Zugänglichkeit (auch) der Apps erleichtern können.
Fachwissen und Bewusstsein fördern
Es muss mit breiter verfügbaren Schulungsangeboten und legislativen Vorgaben dringend mehr Bewusstsein geschaffen werden. Das Fachwissen muss in den Ausbildungen der Designer:innen und der Entwickler:innen als Pflichtmodul vermittelt werden. Schulungsangebote müssen breiter verfügbar sein. Offertanfragen müssen entsprechende Guidelines referenzieren, um bezüglich Zugänglichkeit fachspezifisches Bewusstsein zu forcieren.
Nachverfolgen und Stakeholder zusammenbringen
Es muss eine Plattform geschaffen werden, welche die bisher sehr verstreuten und kaum zusammenarbeitenden Stakeholder zusammenarbeiten lässt, Lücken in der Zugänglichkeit früh und kontinuierlich sichtbar macht und alle relevanten Aspekte nachverfolgen und vergleichen lässt.
Regulatorische Lücken schliessen
Es gilt, die regulatorischen Lücken zu schliessen und Zugänglichkeit breiter und selbstverständlicher einzufordern. Fehlende Zugänglichkeit sollte (wie zum Beispiel in den USA) wirtschaftliche Konsequenzen haben, welche den Druck zur Umsetzung erhöhen. Es müssen alle mitgemeint sein, wenn es um die Umsetzung der Barrierefreiheit geht.